Agil statt hektisch.

Veröffentlicht am 17. März 2014 von Ruediger Kaffenberger

Wer auf Reisen war, der hat was zu erzählen. So konnte ich auch von meinem Besuch der RE-Conf einige interessante Eindrücke mitnehmen.

Agile Vorgehensweisen sind schon einige Zeit ein wichtiges Thema bei der RE-Conf. An dieser Stelle von besonderem Interesse war aus meiner Sicht der Vortrag von Susanne Mühlbauer von der HOOD GmbH mit dem Titel „Agilität im Systems Engineering – geht das? Was ist dran an agil? Können wir davon auch profitieren?“. Es dreht sich hier um die Entwicklung eines Steuergeräts für ein Auto, also Software und Elektronik. Susanne Mühlbauer schildert eine Situation, die uns bei softwareinmotion auch recht bekannt ist: „Wir sind noch mitten im Prozess der Lastenheftabstimmung, und das Produkt fährt schon im Hof herum.“ Unter dem Eindruck des Zeitdrucks wird zu einem Zeitpunkt, zu dem noch nicht sicher ist, was eigentlich geliefert werden soll, bereits ein Stand des Produkts ausgeliefert.

Wie geht man nun mit dieser Situation um? Susanne Mühlbauer schlägt vor, das Beste daraus zu machen und Hektik in agiles Vorgehen zu verwandeln, indem die verfrühte Auslieferung von Entwicklungsständen als Teilauslieferungen im Rahmen eines agilen Vorgehens betrachtet werden. Sie bewertet die neue Situation gegen die Prinzipien des Lean-Systems-Engineering. Durch das Vorziehen von Auslieferungen kommt es zu Überlappungen von Entwicklungsaktivitäten, woraus teilfertige Produkte entstehen, die den Lean-Prinzipien entsprechend als „waste“ anzusehen und zu vermeiden sind. Gilt das nun auch für Lastenheft und Pflichtenheft? Susanne Mühlbauer kommt zu dem Schluss, dass die Lastenheftabstimmung und das Erstellen des Pflichtenhefts weiterhin notwendig ist, da die darin enthaltenen Informationen mindestens aus rechtlicher Sicht dokumentiert sein müssen – es liegt also kein „waste“ vor, aber aus einer Anforderungsdokumentation wird eine Nachdokumentation.

Mein Gedankte hierzu war: „Das klingt ja ganz schön, aber was passiert denn, wenn die Auslieferung in die Hände der Tester beim Kunden fällt?“ Die testen doch gegen die Lastenhefte, von denen sie ausgehen, dass sie durch den Lieferanten vollständig akzeptiert wurden, da er schließlich ja auch schon etwas liefert. In der Folge werden eine große Zahl von Abweichungen festgestellt, die als Fehlermeldungen dem Lieferanten zurückgemeldet werden und dann nach dem Fehlerbehebungsprozess abgearbeitet werden müssen, was naturgemäß einen großen Aufwand verursacht. Also statt unnütze Arbeit zu reduzieren würde ein solches Vorgehen noch mehr unnütze Arbeit hervorrufen, da ja Defizite bemängelt würden, die zwangsläufig aufgrund der frühen Auslieferung entstehen müssen.

Aber wenn es richtig gemacht wird und Lieferant und Kunde bereit sind, vertrauensvoll miteinander umzugehen, kann die typische Hektik bei der Steuergeräteentwicklung in ein fruchtbares agiles Vorgehen umgewandelt werden. Dazu ist es aber notwendig, dass sich beide Seiten gegenseitig „in die Karten schauen“ lassen. Wenn dem Lieferanten die Erprobungsplanung des Kunden ausreichend genau bekannt wäre und er auch über Änderungen ehrlich informiert würde, könnte man den Schwerpunkt der Lastenheftabstimmung, der Pflichtenhefterstellung und der darauf basierenden Entwicklung so planen, dass die zur Erprobung notwendigen Leistungsumfänge rechtzeitig ausgeliefert werden können. Auf der anderen Seite müsste natürlich auch der Lieferant ehrlich darüber informieren, wie sein aktueller Entwicklungsstand und Entwicklungsfortschritt ist, damit die Testplanung des Kunden darauf abgestimmt werden kann und er nicht von Defiziten des Produkts überrascht wird. Ein Pflichtenheft, das entsprechend den abgestimmten Lasten und erreichten Produkteigenschaften fortgeschrieben wird, könnte als Auslieferungsdokumentation dienen. Defizite zum geplanten Stand wären daraus klar zu erkennen und würden nicht erst auffallen, nachdem Testaufwand investiert worden ist.

Mein Fazit ist daher: Agilität bei einer Systementwicklung, wie wir sie zum Beispiel bei der Steuergeräteentwicklung im Automobilbau haben, ist prinzipiell möglich und würde zu eine Aufwandsreduktion sowohl bei Lieferanten als auch beim Kunden führen. Dazu ist aber ein deutliches Umdenken notwendig. Statt Gegeneinander und Geheimhaltung wäre ein Miteinander und Offenheit notwendig. Und Lastenheft und Pflichtenheft wären nicht nur deshalb kein „waste“, weil sie eine rechtlich notwendige „Nachdokumentation“ sind, sondern weil sie – agil erstellt und gepflegt – die jederzeit aktuelle Planungsgrundlage wären.