Der Fluch der lokalen Optimierung.

Veröffentlicht am 10. Juni 2014 von Ruediger Kaffenberger

Vor ein paar Wochen habe ich an einer Telefonkonferenz mit Mitarbeitern eines unserer Beratungskunden teilgenommen. Das Problem: in einer Gruppe werden die Anforderungen nicht so geschrieben wie wir (die Verantwortlichen beim Kunden und der Berater) das gerne hätten. "Wir verstehen sie doch." "Das bringt uns doch nichts." "Das überprüfen wir doch sowieso in einem Test." Das waren so die Begründungen, warum man statt mehrerer einfacher Aussagen unübersichtliche Aufzählungen verwenden will  ... Und da war es wieder, mein Problem: der Fluch der lokalen Optimierung.

Zum ersten Mal war mir dieses Problem zu Beginn meines Studiums bewusst aufgefallen. Als Praktikant hatte ich die Aufgabe, fünfkreis Mikrowellenfilter abzustimmen. Von außen gesehen ist so ein Filter eine Blechkiste in deren Deckel sich ungefähr zehn Einstellschrauben befinden. Das Gebilde hat die Aufgabe, Signale in einem bestimmten Frequenzbereich gleichmäßig passieren zu lassen und alle anderen Signale zu blockieren. Auf einen Bildschirm bekommt man den so genannten Frequenzgang angezeigt. Wenn das Filter noch nicht richtig angestimmt ist, stellt sich der Frequenzgang als ein Gebirge mit fünf verschieden hohen Gipfeln dar. Wenn das Filter richtig funktioniert, sieht man einen Tafelberg mit fünf  kleinen Gipfeln und nur flachen Tälern dazwischen. Dreht man an der ersten Schraube, verändert sich die Höhe des ersten Gipfels und seine Position verschiebt sich leicht. Dreht man an der zweiten Schraube, verschiebt sich die Position des ersten Gipfels aber leider verändert sich auch die Größe wieder. Damit die Flanke des Tafelbergs steil ist, muss der erste Gipfel ganz dicht an der Flanke sein, aber das folgende Tal darf nicht tief werden. Mit etwas Fummeln an den zwei Schrauben bekommt man es dann hin, wie es sein soll, aber weiter rechts hat sich ein Gebirge wie der Himalaya aufgetan. Aber dafür gibt es ja noch ein paar andere Schrauben. Also nehmen wir uns der zweiten Flanke des Tafelbergs an. Dafür sind wahrscheinlich die beiden letzten Schrauben im Deckel verantwortlich. Tatsächlich reagiert der Gipfel ganz rechts in der Anzeige. Endlich passt es hier und man betrachtet das ganze Werk - mit Erschrecken. Nicht nur in der Mitte ist ein zerklüftetes Gebirge, nein auch die erste Flanke ist wieder völlig unansehnlich. Nach etlichen weiteren Versuchen hat der Praktikant nur eine Erkenntnis, wo er auch dreht, der Frequenzgang wird immer krummer, denn in der Anzeige wachsen, schrumpfen und verschieben sich alle Gipfel und Täler, egal an welcher Schraube er auch dreht. Der Verzweifelte befragt die Fachkraft und erfährt: ,,Das musst Du als Ganzes betrachten! Einen Kreis für sich abzustimmen geht nicht, weil es dann für die anderen nicht mehr passt." Es folgt ein Schraubendrehballet, bei dem die Stellschrauben in komplexer Reihenfolge betätigt werden und schon nach kurzer Zeit zeigt die Anzeige den gewünschten Tafelberg. Zurück bleibt ein nachdenklicher Praktikant. Warum ist das so? Warum verschlechtert ein für sich optimal eingestellter Kreis den Frequenzgang des ganzen Filters? Warum ist die lokale Optimierung ein Fluch und kein Segen?



Die Antwort ist technisch gesehen ganz einfach: Die Rückwirkung ist es. Die Wellen laufen nicht einfach von Kreis zu Kreis in einer Richtung durch das Filter, sondern ein Teil wird auch reflektiert und läuft wieder zurück in den vorangegangenen Kreis und wird dort wieder nach hinten reflektiert und "verbiegt" so den ganzen Frequenzgang. So ein Filter ist Teamwork. Nur wenn die Kreise richtig zusammenarbeiten, bekommt man am Ende das gewünschte Ergebnis. Das bedeutet aber, dass der einzelne Kreis gar nicht für sich optimal abgestimmt sein darf sondern sein Ergebnis so verbiegen muss, dass es vom nächsten Kreis so bearbeitet werden kann, dass es zur Wirkung des übernächsten Kreis passt, usw. Jeder muss auf den Anderen Rücksicht nehmen. Geht es auch anders?

Natürlich kann man so ein System auch aus für sich optimalen Komponenten zusammensetzen. Man muss halt die Rückwirkung beseitigen. Das bedeutet, dass alle Beteiligten voneinander isoliert werden müssen. Für das Fünfkreisfilter zum Beispiel bedeutet das, dass die Kreise mit Verstärkern voneinander getrennt werden müssen. Es sind nicht nur mehr und komplexere Bauelemente notwendig, sondern es muss auch noch Energie zugeführt werden. Diese Lösung ist also wesentlich weniger effizient, als das einfache System mit den Rückwirkungen. Und was hat das mit den Anforderungen von vorne zu tun?

Diese am Beispiel des Mikrowellenfilters gewonnenen Erkenntnisse zur lokalen Optimierung, kann man nach meiner Erfahrung durch Abstraktion auf Systeme im Allgemeinen übertragen. Also auch auf das eingangs beschriebene Problem mit der Spezifikation der Anforderungen. Der Entwicklungsprozess insgesamt ist halt nur dann effektiv, wenn bei jedem einzelnen Schritt auf die Bedürfnisse anderer Schritte eingegangen wird, die auf die Ergebnisse des ersten Schrittes aufbauen, auch wenn das an diesem Punkt nicht optimal erscheint. Aber warum tun wir uns so schwer, auf lokale Optimierung zu Gunsten eines optimalen Gesamtergebnisses zu verzichten?

Zwei bestimmende Faktoren im menschlichen Verhalten sind die Angst vor Veränderung und der Wunsch mit geringstem Aufwand ein akzeptiertes Ergebnis zu erzielen. Optimierung und Erhaltung sind erst einmal gegensätzliche Kräfte. Wenn nun eine Bewertung der Arbeitsergebnisse stattfindet, kann dadurch das Kräftegleichgewicht in Richtung der Veränderung - Optimierung - verschoben werden. Die Veränderung kommt dann zum Stillstand, wenn die Minimierung des Aufwands und die Maximierung der Bewertung ein neues Gleichgewicht gefunden haben. Das gilt unabhängig davon, ob wir ein lokales oder ob wir ein globales Optimum anstreben. Aber es gibt noch einen dritten Faktor, nämlich die Startposition für die Veränderung. Hier unterscheiden sich das Mikrowellenfilter und der Entwicklungsprozess. Die Kreise des Filters sind das Ergebnis eines systematischen Syntheseprozesses, bei dem die einzelnen Kreise von vorneherein so ausgelegt werden, dass das System nur bei Gesamtoptimierung ein akzeptables Ergebnis liefert. Ihre Grundeinstellung liegt bereits in der Nähe der Einstellung, die für das globale Optimum erforderlich ist. Man ist gezwungen, einen Blick auf das Ganze zu entwickeln, um das Filter erfolgreich abstimmen zu können. Kurz: das Mikrowellenfilter wurde "top - down" entwickelt und kann nur als Einheit gesehen werden. Im Gegensatz dazu sind die bestehenden Entwicklungsprozesse eine Verkettung oder sogar Vernetzung weitgehend voneinander unabhängig entstandener Schritte. Sie sind in ihrer verketteten Form das Ergebnis einer "bottom-up" Entwicklung und innerlich nicht für die gegebene Verkettung oder Vernetzung ausgelegt. Folglich befinden sie sich bereits in der Nähe ihres lokalen Optimums und werden aufgrund ihrer Historie isoliert voneinander gesehen. Und das ist auch der Grund, warum es so schwer fällt, hier aus der lokalen Optimierung auszubrechen und zu einer globalen Optimierung zu kommen: Einerseits ist es viel leichter, ein plausibles Maß für die Bewertung des Arbeitsergebnisses zu definieren, das sich auf die Elemente des konkreten Prozessschritts bezieht, als eines, das sich auf die Elemente eines abstrakten Gesamtprozesses bezieht. Andererseits erfordert die Hinwendung zum globalen Optimum eine Änderung des Arbeitsaufwands weg vom lokalen Optimum. Selbst, wenn das neue Optimum auch lokal gesehen einen geringeren Arbeitsaufwand bedeutet, so überwiegt doch zuerst einmal der Umstellungsaufwand. Was kann man da machen?

Um den Fluch des lokalen Optimums zu bannen, muss es gelingen, ein Maß für das Arbeitsergebnis zu finden, das einen Beitrag zum globalen Optimum zur Grundlage hat und gleichzeitig lokal beobachtbar und plausibel ist. Das ist keine leichte Aufgabe, da hier sowohl Systemverständnis als auch Detailkenntnis notwendig ist.

Übrigens, im Verlauf unserer Konferenz hat es sich dann gezeigt, dass das Problem ein ganz anderes ist: Ab und an wurde einfach nicht der passende Abstraktionsgrad für die Anforderungen getroffen - aber das ist eine andere Geschichte.